Friday, August 22, 2014

Auf den Spuren Konrad Maurers

Der folgende Artikel von mir ist am 15. August in der deutschsprachigen Ausgabe des Island-Magazins Iceland Review Online erschienen. Ich poste ihn nun auch hier.

Das anfängliche Nieseln ist vorbei: nun hat der Himmel hat seine Schleusen so richtig geöffnet. Beeindruckend unbeeindruckt davon schälen sie sich alle aus unseren beiden Bussen, mit ihren Regenjacken, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, um den kleinen Friedhof am rechten Ufer der Ölfusá zu sehen. Er bezeigt die Stelle, an der vor 150 Jahren ein Hof stand, den es nicht mehr gibt: Arnarbæli.

Lustig wird's im Bus bei manchen Anekdoten

Hier trifft am 1. Juli 1858 der bayerische Rechtshistoriker Konrad Maurer den Propst und Geistlichen Séra Guðmundr Johnsen. Dieser ist der Schwager und Vetter Jón Sigurðssons. In den wenigen Stunden, die Maurer hier verbringt, erlebt er allerlei: ein unerwartet ihren Weg querender Bach muss zu Fuß überwunden werden, wobei ihnen das Wasser bis zum Bauch schwappt. Am anderen Ufer sind die wasserdichten Stiefel bis zum Rand gefüllt. So patschnass erreichen er und sein Führer Ólaf Ólafsson den nahen Hof Auðsholt und finden dort sofort problemlos ein Nachtquartier. Die Frau des abwesenden Vorstehers zieht dem überraschten Gast beim Zubettgehen persönlich die nassen Kleidungsstücke aus und nimmt sie fort, um sie am Küchenfeuer zu trocknen. Und zwar – jawohl – alle.

Am anderen Morgen wird für einen trockeneren Rückweg frischweg ein Pferd eingefangen, gesattelt und gezäumt, um die Männer nacheinander über das Wasser zu tragen. Maurer lernt: es ist hiesiger Brauch, dass Reisenden das Recht zukommt, sich fremder Pferde zum Übersetzen über Flüsse zu bedienen. Nur muss man sich dabei daran halten, diese anschließend wieder über das Wasser zurücktreiben. Beim Propst in Arnarbæli werden dem Besucher fünferlei verschiedene Eier von Wildvögeln vorgesetzt, um ihm auch für seinen Gaumen etwas Neues zu bieten. Dazu gibt es „das treffliche Skýr, jetzt bereits mein entschiedenstes Leibgericht“, wie Maurer schwärmt. Aber die größte Überraschung erfährt er kurz vor der Weiterreise, als Séra Guðmundr mit feierlicher Geste eine sehr schöne handgeschriebene Ausgabe der Jónsbók hervorholt und diese Maurer schenkt.


Am Hofe Njáls: Bergþórshvoll

Warum wird einem ausländischen Besucher solch ein wertvolles Geschenk gemacht? Dem 35-jährigen Konrad Maurer eilt in Island ein großer Ruf voraus. Er ist ein außerordentlich inniger Kenner der Geschichte, Literatur und Kultur der Insel. Er spricht ihre Sprache. Und will alles erfahren, denn ihm liegen auch besonders die gegenwärtigen Sorgen und Hoffnungen des isländischen Volkes am Herzen. Als rechtshistorischer Experte für den Norden hat er Islands Anspruch auf Selbständigkeit auf ein solides Fundament gesetzt und sich vorbehaltlos für die isländische Unabhängigkeitsbewegung eingesetzt. So wurde er zu einem Unterstützer und Freund Jón Sigurðssons.

Für Maurer, der elf Jahre zuvor gegen seinen Willen Professor wurde, der laut eigenem Bekenntnis „betretene Pfade nicht gehen kann“, ist ein neues und schwieriges Gelände genau das, was ihn anzieht. Im Jahr 1858 hält es ihn nicht länger in München: er muss die Insel, deren Geschick zum Inhalt seines Lebens geworden war, unbedingt mit eigenen Augen sehen. So lässt er Vater, Schwester und seine Verlobte Valerie zurück und begibt er sich auf eine mehrmonatige Reise. Per Schiff erreicht er, von der rauen Überfahrt gebeutelt, Reykjavík, verbringt acht Wochen dort zur Vorbereitung seiner anschließenden Reise zu Pferd durch das Land. Er nutzt die Gelegenheit und sammelt nach dem Vorbild der Brüder Grimm Volkssagen, die er später in Buchform herausgibt („Isländische Volkssagen der Gegenwart“, 1860).

Bei Kross

Dass wir seine Islandreise heute im Detail nachvollziehen können, ist einem ungewöhnlichen Glücksfall zu verdanken: 1972 taucht das verschollen geglaubte Manuskript von Maurers Reisebeschreibung im Besitz seines Enkels, meines Großvaters, auf. Es gewährt uns einen Einblick in das Island zur Mitte des 19. Jahrhunderts wie kein anderes Zeitzeugnis vergleichbarer Art. 1997 erscheint die Reisebeschreibung in isländischer Übersetzung unter dem Titel „Íslandsferð 1858“ (Ferðafélag Íslands). Der deutsche Originaltext ist hingegen bis heute unveröffentlicht.

Viele Isländer haben das Buch gelesen und sich damit beschäftigt. Und heute, am 19. Juli 2014, findet auf die Initiative der Ferðafélag Íslands eine Tagesfahrt auf den Spuren Konrad Maurers statt. Ich darf die Fahrt begleiten und etwas über meinen Vorfahren und seine Reise erzählen. Zeitung, Radio und Internet haben das in dieser Form erstmalig stattfindende Event angekündigt und mehr als 50 Teilnehmer sind gekommen.

Rot: die Route Maurers, blau: unsere Route. (Grafik: Ferðafélag Íslands)

Zusammen mit den isländischen Reiseleitern Dr. Árni Björnsson, Jóhann J. Ólafsson und Sigurjón Pétursson haben wir eine Route durch das Südland ausgearbeitet, die uns von der Hauptstadt bis nach Skógar führt und auf einer anderen Strecke wieder zurück. Unterwegs machen wir Halt an verschiedenen Orten, die Maurer auf seiner Reise besuchte. Ergänzend zu einem Handout auf deutsch und isländisch habe ich ein paar Exemplare meines unmittelbar vor der Fahrt fertiggestellten Buches „Der Islandfreund: Konrad Maurer 1823-1902“ dabei und biete sie zum Selbstkostenpreis an. Bald haben alle Bände den Besitzer gewechselt.

Auch der isländische Botschafter in Berlin, Gunnar Snorri Gunnarsson, sowie der ehemalige isländische Botschafter Ólafur Egilsson nehmen an der Fahrt teil. Sie und viele weitere geschichtskundige Isländer, die ich an diesem Tag spreche, wie etwa Þórður Tómasson, den Gründer des Skógar-Museums, oder Séra Kristján Valur Ingólfsson, den Bischof von Skálholt, betonen immer wieder von sich aus die große Bedeutung Maurers für Island. Ich staune über dieses so lebendige Interesse an einem vor über 100 Jahren zu Ende gegangenen Menschenleben.

In Mosfell í Grimsnesi

Elfen sollen ein langes Gedächtnis haben und nichts vergessen, heißt es bei Maurer. Ich glaube, die Isländer tun es ihnen darin nach.